Kernursachenlehre...
Der Verfasser dieser Zeilen ist ein konsequenter Verfechter der Kernursachenlehre. Sie besagt in vereinfachter Form, dass - was zunächst durchaus selbstverständlich erscheint - eine Problemlösung immer an der Kernursache des Problems anzusetzen hat. In der praktischen Umsetzung wird indessen oftmals übersehen oder aus eigennützigen Gründen bewusst darüber hinweggetäuscht, dass der Ansatz einer Problemlösung nur eine von oftmals mehreren Zwischenursachen oder gar das Symptom betrifft.
Ein Beispiel aus der EDV-rechtlichen Anwaltspraxis des Verfassers dieses Beitrags (detaillerter behandelt im letzten Fachbuch des Verfassers: “Beweisführung in EDV-Sachen”, ESV-Schmidt Verlag, Berlin 2009): Ein EDV-Mangel wird von einem Sachverständigen immer über das von der Klagepartei darzulegende Fehlerscheinungsbild - also das Symptom - ermittelt. Nicht selten neigen Sachverständige dazu, das Symptom - unter Windows-Systemen z.B. den “blue screen” im Zuge eines Systemabsturzes - als den Mangelbezug selbst zu präsentieren, was in der Praxis oftmals über die Feststellung des zuletzt aktiven Anwendungsprogrammes und das Gewährleistungsrecht im BGB zur Verantwortlichkeit des Softwarelieferanten führt. Dies kann richtig sein, muss es aber keineswegs. Vielmehr kann ein “symptomatischer” Systemabsturz mit entsprechendem Erscheinungsbild auf diverse Ursachen zurückzuführen sein, die überhaupt nichts mit einem Mangel des aktiven Anwendungsprogramms zu tun haben. So kommen u.a. Leitungsdefekte, Stromschwankungen, Hardwarefehler, Viren, Mängel im BIOS oder anderen Softwareschichten (Netzwerkbetriebssystem, Betriebssystem etc.) in Betracht, welche den Mangel an die oberste Schicht der Anwendungssoftware “durchreichen”. Freilich gibt es in diesem komplexen Umfeld Mängel, deren Kernursachen von einem Sachverständigen einfach nicht mehr feststellbar sind, so dass der Mangel nur über das Symptom festgestellt werden kann. Dies sollte aber bei einem technisch versierten EDV-Gutachter die Ausnahme bleiben und bei einer Begutachtung ausdrücklich zum Ausdruck gebracht werden. Warum ? Nur an Hand der Kernursache lässt sich der richtige Anspruchsadressat für die Ansprüche des Anwenders ermitteln und eine rechtlich (u.a. für Rechtsfolgen in der Gewährleistung) massgebliche Mangelreichweite- und abhilfebewertung vornehmen. Dennoch ergehen viele Gerichtsurteile ohne dass ein Bewusstsein für die Tatsache entwickelt wurde, dass die Kernursache konsequent vorrangig ermittelt werden muss; vielmehr werden in vielen Fällen “voreilig” die Softwarelieferanten zur Verantwortung gezogen. Mithin ist höchst bedenklich, wenn bei derartigen Verfahren - wie so oft - überhaupt nicht zur Bewertung kommt, ob die eigentliche Kernursache ermittelt wurde, ob dies und ggf. aus welchen Gründen dies unsicher ist bzw. ob und warum man sich mit dem Symptom als Fehler- bzw. Mangelbezug begnügt hat. Die Folgen für den Softwarelieferanten, der hoffentlich einen guten Anwalt hat, dieser Misslichkeit vorzubeugen, liegen auf der Hand. Mit “Zwischenursachen” wird die Angelegenheit übrigens noch komplizierter: Wenn ein Systemabsturz vom Sachverständigen nicht am Symptom “blue screen” festgemacht wird, sondern an der Ermittlung eines defekten (“korrupten”) Datenbestands, so hat er löblicherweise die Ursachenkette weiterverfolgt, ohne dass jedoch gesagt ist, der korrumpierte Datenbestand wäre die Kernursache des Mangels. Ungeachtet der Frage, ob der Sachverständige nunmehr korrupte Daten eines Programms pauschal auf einen Mangel des Anwenderprogramms zurückführt, kann der Defekt des Datenbestandes tatsächlich eine (von mehreren) Zwischenursachen sein. Wurde etwa die Computeranlage vorsätzlich oder fahrlässig während einer Datenbankoperation mit einer Stromschwankung oder einem Stromausfall konfrontiert, war dieser die Kernursache für den korrupten Datenbestand. Dann wiederum fragt sich, wer hat die Unregelmässigkeit zu vertreten, der unbedarfte Anwender, der die Anlage abgeschaltet hat oder der Stromlieferant ? Wird die Kernursache “Stromschwankung” (Symptom: “blue screen” - Zwischenursache: korrupter Datenbestand) im übrigen dadurch “relativiert”, dass keine USV (unterbrechungsfreie Stromversorgung) die Anlage überwacht hat ? Kurzum, die “schnelle Schuld” beim “nächst greifbaren” Beteiligten des Szenarios - also dem Softwarelieferanten - zu suchen, wird einer fairen Bewertung alleine des Sachverhalts, auf den die rechtliche Prüfung zur Anwendung kommt, häufig nicht gerecht, obwohl, oder gerade weil sie doch so “nahe” liegt; damit muss freilich auch die rechtliche Schlussfolgerung scheitern.
Wozu diese langatmigen Erklärungen ? Die Kernursachenlehre ist überall im täglichen Leben von enormer Bedeutung und wird oft aus Nachlässigkeit oder zur Täuschung von Menschen ausser Kraft gesetzt. Offensichtlich ist sie etwa in der Medizin von sehr grosser Bedeutung, um eine Diagnose zu stellen und ein Medikament zu bestimmen. Aber auch in der Politik spielt sie eine sehr grosse Rolle. Sehen wir uns das an anderer Stelle präsentierte Beispiel der rechten Szene an. Nahezu die gesamte Medienlandschaft scheint mit der für eine Demokratie bedenklichen Aussage hierzulande kein Problem zu haben, der NPD auch in Zeiten eines fehlenden Verbots dieser Partei und vor dem Hintergrund verfassungsrechtlich garantierter Meinungsfreiheit auch für ihr verfassungsrechtlich unbedenkliches Gedankengut kein Forum geben zu wollen. Bereits die Tatsache, dass der Verfasser dieser Zeilen zum wiederholten Male im vorliegenden Zusammenhang versichern musste, dass er mit seiner politischen Überzeugung keineswegs “rechts” steht, bestätigt das Zerrbild scheindemokratischer Verlogenheit. Vielmehr ist es seine feste Überzeugung, dass die propagierte politische Realität an einer differenzierten, wahrheitsorientierten Betrachtungsweise - und sei es “nur” auf Grund auswärtiger Einflüsse bzw. “im Interesse” eines einfach gestrickten Bürgers mit schwarz-weiss-Mentalität - nicht interessiert zu sein scheint. Der Eindruck, dass “Neonazis” gestern die Hölle verlassen haben und heute nachhaltig bekämpft werden müssen, scheint den politischen wie gesellschaftlichen Vorzug zu verdienen. Dies ist sehr bedauerlich und erinnert gar an frühere politische Entgleisungen. Wäre es nicht sinnvoller und sogar rechtsstaatlich geboten, nach der Kernursache der rechten Entwicklung zu fragen und dann möglicherweise danach, was Politik und Gesellschaft falsch gemacht haben, um hieraus eine so effektive wie humane Reaktion zu entwickeln, die den Ursachen begegnet ? Schliesslich handelt es sich grossenteils um unsere Kinder, die uns ein analytisches Eingehen, welches auch den bemühten Dialog einschliesst, wert sein sollten. Einfacher ist es freilich mit einem überholten absolutistischen Feindbild: bist du nicht für uns, dann bist du gegen uns und erledigt. Letzteres lässt sich durch eine primitive und für jeden leicht verständliche Fixierung an den Symptomen offensichtlich besonders gut erreichen.
Derweil verlässt einen heutzutage der Verdacht nicht mehr, dass etablierte politische Kräfte von der Angst befallen sind, ein effektives Vorgehen über die Kernursachenbetrachtung deckt ihre eigenen Unzulänglichkeiten auf. Warum wohl bezeichnen sich viele Wähler rechter Parteien als von der etablierten Politik genervte Protestwähler ? Warum wohl gibt es so viele junge Sympathisanten im rechten Lager, die sich fragen, warum Wahlplakate etablierter Parteien vor Verlogenheit triefen, während rechte Parteien wahrheitsgemässen Aussagen deutlich näher zu stehen scheinen ? Warum wohl geht das immer wieder bestätigte Gerücht, wonach viele Amtsträger auf dem “rechten Auge blind” sein sollen sowie u.a. Polizeibeamte ihrerseits als einzigen Ausweg für ihren Protest die Wahl einer rechten Partei sehen ? Letzteres ist freilich besonders pikant vor dem Hintergrund, dass die Innenminister sich immer wieder “überrascht” zeigen, wenn sie einräumen, dass Verfassungsschützer “nicht ohne Sympathie” für rechts gehandelt zu haben scheinen. Gibt es bessere Beispiele für Verlogenheit, wenn man den diesbezüglichen Kernursachen nicht konsequent auf den Grund geht ? Und schliesslich die Gretchenfrage: Sind die fortwährend zunehmenden Sympathien für rechts nur bei “bösen Menschen” oder “dummen Menschen”, die sich von Rattenfängern haben verführen lassen, zu finden oder können auch Menschen darunter sein, die ohne böse Absicht und Hintergrund bei klarem Verstand einfach der vorbezeichneten Verlogenheit den Kampf angesagt haben ? Nochmals, es geht hier nicht um irgendeine Parteinahme, es geht darum, der Kernursache für die rechten Tendenzen und damit der Wahrheit auf den Grund zu gehen - ob sie bequem ist, darf keine Rolle spielen. Wer sich dieser Forderung verschliesst, darf sich nicht wundern, wenn über seine Motive sinniert wird.
Dies gilt um so mehr, als - wie oben dargelegt - bei dem hier angeführten Beispiel sogar Tendenzen auszumachen sind, aktiv bereits “vorbeugend” selbst zulässige Äusserungen unter Verstoss gegen die Meinungsfreiheit zu unterbinden, wenn sie nur aus einer bestimmten Richtung zu kommen scheinen. Selbst bekannte Persönlichkeiten, die offenbar im Rahmen der Ausübung ihrer demokratischen Meinungsfreiheit mehr der Wahrheitsliebe als irgendeiner “rechten Verwerflichkeit” frönen wollten, haben diese Mechanismen am eigenen Leib zu spüren bekommen. Z.B. Frau Hermann - ehemalige Tagesschausprecherin und keineswegs eine in irgendeiner Form missliebige, rechte Persönlichkeit - kann hiervon mehr als ein Lied singen; Herr Grass, Herr Sarazin und unzählige andere ebenso, wobei vorliegend nicht die geringste Wertung von Aussagen dieser Personen beabsichtigt ist. Aber wie soll eine definitiv wahrheitsorientierte Auseinandersetzung mit der Kernursache überhaupt möglich sein, wenn man u.a. unter Verstoss gegen die Meinungsfreiheit bereits prophylaktisch verhindert, dass eine Auseinandersetzung überhaupt stattfinden kann ? Welche Auswirkungen hat dies wiederum auf junge Menschen, die erfahren müssen, dass sie keine konstruktiven Antworten erhalten können, sondern nur destruktive Ablehnung erfahren, obgleich sie nur dem gefolgt sind, was sie einfach mehr überzeugt hat ?
Und schliesslich eine letzte Frage, die die Brisanz der vorstehenden Thematik des weiteren unterstreicht: Warum wohl fühlt sich der Leser ob des Themas immer wieder von der Frage verfolgt, dass hier jemand unerwünschte, tendenzielle Aussagen unterzubringen versucht, obgleich dem Verfasser auf Ehr und Gewissen definitiv und uneingeschränkt nur eines am Herzen liegt: Dass Kernursachen für Problemkomplexe ermittelt und die Wahrheit zur effektiven Grundlage für politische Entscheidungen gemacht wird ? Antwort und Frage zugleich (?): weil Wahrheit nicht Wahrheit sein darf ?
Weitere markante Beispiele für den Sinn einer zwecks ihrer Aufarbeitung erfolgenden Erforschung der Kernursachen sind in den immer häufiger werdenden Amokläufen und Selbstmorden von verzweifelten Menschen zu sehen. Wir sind überzeugt, dass nicht nur in diesem Zusammenhang die sozialkalte und egoistisch gewordene Gesellschaft eine erhebliche Mitschuld an der Entwicklung trägt, während das Herumdoktern an den Symptomen (“verschärft das Waffenrecht!” - “verbietet die Gewaltvideos” u.s.w.) einem Kratzen an der Oberfläche der effektiven Problembehandlung gleicht. Zwar existieren zuweilen auch multiple Kernursachen, welche in seltenen Fällen gemeinsam ins Visier genommen werden müssen; zumeist sind es jedoch die Symptome und Zwischenursachen, welche Politikern die Möglichkeit verschaffen, mit der (Schein-)Abstraktion “Ursache” unbequemen “Feinden” und deren Bekämpfung aus dem Wege zu gehen. Welcher Politiker wagt seinen Wählern schliesslich offen mit dem versteckten Vorwurf entgegenzutreten, dass die elementarste, anzustrebende gesellschaftliche Veränderung diejenige darstellt, die Motivation der Menschen weg vom Egoismus und hin zum Mitgefühl zu bewegen ?
Heutige (Partei-)Politik muss sich leider in sehr vielen Bereich den Vorwurf gefallen lassen, aus offensichtlich eigennützigen Motiven heraus nicht den Kernursachen zu begegnen, sondern lediglich Symptome und bestenfalls Zwischenursachen anzugehen; in vielen Fällen lenkt sie sogar gezielt von Kernursachen ab. Für jede anderweitige Deutung politischer “Ursachenverfolgung” der letzten Jahre (u.a. bei der Vorbereitung von “Abhilfegesetzen”) bliebe wohl nur die Schlussfolgerung gesamtheitlicher oder teilweiser Unfähigkeit übrig. Diese Entwicklung ist leider schon so weit gediehen, dass sich die Symptombekämpfung oftmals definitiv als Standard etabliert hat und die Frage nach der (wirklichen) Kernursache, deren Antwort stets die effektivste Vorgehens- bzw. Behandlungsweise verspricht, schon institutionell gar nicht mehr gestellt wird. Wir gehen so weit, festzustellen, dass genau so, wie politische Intransparenz als heimlicher Demokratiekiller bezeichnet werden kann, eine politische Kultur, die ihre Arbeit nicht definitiv und konsequent an der Aufarbeitung von Kernursachen auszurichten versucht, sich - gelinde ausgedrückt - von demokratischen Grundlagen wegbewegt.
RA Dr.D.Schedel
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